Der soziale Kultus 2019-04-10T12:45:05+00:00

Der soziale Kultus

Meine Sehnsucht wird angesprochen, wenn ich diese Worte lese: „wahrgenommen werden“. – Es geht nicht um meine Sehnsucht, wichtig zu sein, sondern um mein Bedürfnis, individuell zu sein. Begegnungen von Ich zu Ich. – Ich wohne in einer Großstadt. Ich kann inmitten von Menschen spazieren gehen, Hunderten, Tausenden. Sie strömen an mir vorbei, sie grüßen nicht. Ja, es ist wohl so: Ich werde gar nicht wahrgenommen. –

Dann schneide ich mir Löcher in meine Jeans, das T-Shirt so kurz, dass der Bauch frei ist. Jetzt werde ich gesehen: Die Männer schauen mir nach, sie lächeln mir zu, ihre Augen leuchten auf. Ich komme energiegeladen nach Hause. Ich fühle mich glücklich, bin voller Selbstvertrauen und Tatendrang. –

Ich ziehe mir schwarze, zerrissene Kleider an, färbe meine Haare mit Haarkreide bunt und stecke mir gruselige Schmuckstücke an. Wieder werde ich gesehen: Die meisten, die an mir vorbeilaufen, schauen verachtend zu mir, angewidert, schockiert. Doch ich gehe meinen Weg weiter, meine Gesichtszüge lässig locker unberührt. Ich komme nach Hause und fühle mich stark, ich fühle mich ganz bei mir selbst, ohne dieses Gefühl mit zu schwimmen in dem, was man von außen von mir erwartet.

Aus Verachtung wird Stärke, aus Egoismus Selbstvertrauen

Wahrgenommen werden – beide Versuche fühlen sich also irgendwo gut an, wenigstens an irgendeiner Stelle meines Bewusstseins fühlen sie sich gut an. Aber:  Es liegen mehr Möglichkeiten in mir als das, was durch diese Stelle berührt wird, das fühle ich als Unzufriedenheit. Im gleichen Moment, wo ich mir dessen bewusst werde, dass es sich nur um einen Bereich meines Bewusstseins handelt, mein Wesen aber umfassender ist als dieser begrenzte Bereich, da lenke ich den Blick einfach jenseits der Grenze dieses Bereiches. Aus diesem Überblick nehme ich wahr, wie mich das erste Experiment dazu verführt, andere Menschen für mein Wohlgefühl zu benutzen. Und das zweite Experiment betrachtend nehme ich wahr, wie ich verhärte und ich nehme wahr, dass das Gefühl von Verachtung, das mir entgegengebracht wurde, schon vorher in meiner Haltung zu der sozialen Umgebung lag, als ich in solcher Art loszog, wissend, das ästhetische Gefühl der Mitmenschen zu verletzen.

Und so entsteht in mir die Erkenntnis, wie aus Verachtung innere Stärke wird, wie aus Egoismus Selbstvertrauen entstehen kann. Und scheinbar negative Eigenschaften doch etwas Positives bewirken.

Die Blume schöner sehen

So die schnelle Schlussfolgerung. Aber es geschah nicht einfach so, es geschah durch die Wahrnehmung. Durch die Wahrnehmung der anderen Menschen, durch die Resonanz, die sich in mir von ihrer Wahrnehmung meines Selbst bildete. Sollte ich mich überhaupt nur veredeln können durch den sozialen Zusammenhang, ohne die Wahrnehmung meiner Mitmenschen nur rohe Natur sein? — Die Natur scheint ohne den Menschen sich entwickeln und gedeihen zu können. Doch meine ich, wenn ich eine Blume bewundere, dass sie noch schöner aufblüht, wenn ich einem Bächlein zuhöre, dass es sein Rauschen und Gurgeln verändert, wenn ich die Wolken mit Fantasiekraft anschaue, sie ihre Formen nach meinem Ideengehalt verändern können.

Und der Mensch? Jeden Schritt, den ein Kind, das auf die Erde kommt, vollzieht, kann es nur durch Wahrgenommen werden vollziehen! Sein Hunger, sein Durst werden von der Mutter wahrgenommen. Seine Bewegungen werden von ihr spielerisch entwickelt, seine Worte immer wieder wahrgenommen und korrigiert. Doch noch viel bedeutender ist die seelische Wahrnehmung zu sein. Die Freude über seine Erfolge, die Aufmerksamkeit auf seine Empfindungen und Gefühle. So entwickelt sich das Kind zu einem seelisch gesunden Menschen: Weil seine Eltern es sehen und hören – wahrnehmen.

Wenn das einem Kind fehlt, dann entwickelt es Methoden, um wahrgenommen zu werden. Opposition, störendes Verhalten, extremes Aussehen, schlechte Leistungen, all das, was aus dem Normalsein herausfällt, um endlich Wahrnehmung zu bekommen. Zu seiner Wesensentfaltung scheint die Wahrnehmung zu gehören!

Wahrgenommen werden, das ist dem Menschen existentiell wie Speise und Trank, es ist sein Lebenselixier. Es ist ein Grundbedürfnis des Lebens. Ja, wird nicht durch das Wahrgenommen werden sogar die ewige Bewegung des Lebens impulsiert, aus diesem Atmen von Wahrgenommen werden und Selbstwahrnehmen?

Die Geste dieser Bewegung leuchtet mir auf als eine Lemniskate, die durch ihre Überkreuzung in der einen Hälfte nach außen gerichtet ist und in der anderen nach innen.

Die verborgene Flüchtlingsfrage

Welchen Anteil an den sozialen Probleme hat dieser Mangel des Wahrgenommen-werdens?

Die Flüchtlinge, die bei uns leben, nehmen wir sie wahr? Sehen wir mehr, als dass jemand friert, hungert oder Durst hat? Wer interessiert sich für sie, für ihre Seele? Wer geht zu ihnen und fragt sie nach ihrer Kultur, ihren Empfindungen, ihrer Art zu sehen, zu hören, zu schmecken? Sie kommen aus sonnigen, warmen Ländern, haben meist eine großartige Herzenskultur. Voll Wärme und Schenkbereitschaft. Doch wo werden sie wahrhaft eingegliedert? Viele meinen, dass ‚Integration‘ bedeute, die Geflüchteten sollten unsere Sprache lernen, unsere Anschauungen und unsere Gewohnheiten nicht stören. Wie viele sind bereit, unsere neuen Mitbürger wahrhaft wahrzunehmen in allen Qualitäten, die diese Menschen mit sich bringen, und ihnen Plätze in unserer sozialen Struktur in solcher Art einzuräumen, dass sie unsere Mängel ausgleichen können? Dann wäre die Flüchtlingsfrage eine ganz andere! Nicht eine, die Probleme möglichst klein halten will, sondern eine Fragestellung, die darauf ausgerichtet ist, das Geschenk zu enthüllen, das wir uns gegenseitig geben können für unsere Entwicklung zu einer gesunden Gesamtmenschheit.

Ich habe in einer Menschengemeinschaft, in der auch Menschen aus dem arabischen Raum lebten, erfahren, wie bei Problemen, bei denen sich das europäische Wesen vom Kopf her so festgefahren hatte, dass das Herz wie apathisch nur zum Bluttransport degenerierte, diese Menschen einfach und warm immer weiter aus dem Herzen gesprochen haben und die ganze Gemeinschaft vor einem Bruch bewahrten.

Wie und wo kann man in unserem sozialen System eine solche Herzensqualität einsetzen?

Welche Farbe hat das Wort?

Oder künstlerische Impulse: Den Künstlern, die aus der islamischen Tradition kommen, ist das Abbilden von Gesichtern verboten. Deshalb haben sie eine Technik entwickelt, die mit der Kalligraphie verbunden ist. Sie schreiben in wunderschönen Buchstaben eine Gebetszeile und unterlegen diese dann mit einer Farbstimmung, z.B. rot für ‚Gott ist groß‘, lila für eine Bitte an Gott. Ich habe erfahren, wie islamische Künstler, die noch gar keine Berührung mit der Anthroposophie hatten, ein Farbgefühl für das Wort erreicht haben, das dem der Eurythmisten gleicht. Ein Projekt entstand, dieses Farbempfinden mit dem Formempfinden der Ikonenmaler zu verknüpfen. Die Teilnehmenden schufen gemeinsame, kulturübergreifende Gemälde, die Formen in Farberleben überführten und Farben formgestaltend wahrnehmen ließen. Das hört sich anthroposophisch an. Das wird es jedoch schon alleine dadurch, weil es nicht abgrenzend arbeitet, sondern an einem zukünftigen Menschen bildet, der alle Sinnesaspekte in sich vereint. Ist das nicht esoterische Arbeit im praktischen Sinne, wenn man kulturübergreifend arbeitet und die vielen Arten zu hören, zu schauen berücksichtigt? Ist es nicht ganz praktisches esoterisches Arbeiten?

Rabiate Volksgeister

Oftmals stecken wir in Gedankenbildungen fest: Christen haben mehrere Götter, Moslems kennen den Christus nicht und so weiter. Es sind meist Gedankengebilde, die den einzelnen Menschen nicht berücksichtigen, sondern Gruppen bilden. Dadurch wird der einzelne Mensch nicht mehr wahrgenommen. Im Resultat – ich kann mich ja nicht im Nirgendwo aufhalten – bin ich mit meiner Gedankenbildung dort, wo diese Gruppenwesen arbeiten. Die Volksgeister, die Zeitgeister, sie können ganz schön rabiat sein. Die haben kein Verständnis für unsere Sorge um das einzelne Leben. Sie arbeiten wie Gärtner und schneiden und pflegen ihre Laut- und Rhythmusgebilde der Sprachen, ihre Entwicklungen, die auf eine Blütenbildung hinzielen, von der wir oftmals keine Ahnung haben. Da wird hin- und hergepfropft, gejätet und gruppiert, wie es für die Entwicklung des Impulses dieser Geistwesen gut ist.

Doch wenn wir in diesen Gruppengedanken, (Flüchtlinge sind so und so…) leben, machen wir uns dann nicht zum Diener, zum Sklaven dieser Geistwesen?

Wäre es nicht unsere Aufgabe, ganz aus dem Menschsein heraus zu denken und zu urteilen und zu entscheiden? Die Begriffsgebilde, die mit Hilfe der Archangeloi entstanden sind in meinem Herzen zu wägen, und inmitten meines Herzens zu menschlichen Entscheidungen, Taten und Worten zu kommen, auch wenn sie nicht den Weitblick eines Geistwesens haben können?

Dieses wägende Bewusstsein lässt die Mitte wachsen. Dann ist mein Herz bewusst wieder offen für die Volks- und Zeitgeister. Ich kann sie wahrnehmen, wenn ich mir die Begabung und Qualität eines Volkes anschaue. Denn dadurch nehme ich nicht mehr die einzelne Individualität wahr, sondern die Fähigkeit des Voksgeistes. Und wenn ich mir anschaue, wie ein Kind sich unterschiedlich entwickelt, je nachdem, ob ich seine negativen oder seine positiven Seiten mit meiner Wahrnehmung beleuchte, hoffe ich, dass auch die jeweilige Art, wie ich ein anderes Volk wahrnehme, Einfluss auf den Volksgeist hat und so auch letztendlich über das Wahrnehmen der positiven Qualitäten zukünftige Kriege verhindert werden könnten.

Ich stelle mich ihnen jedoch nicht mehr als Diener zur Verfügung, ich nehme sie wahr und das wird auch für sie etwas bedeuten. Das Ausmaß dessen, was es für sie bedeutet, ist mir jetzt nicht zugänglich, aber ich nehme wahr, dass mein Wahrnehmen etwas für sie bedeutet.

Von der Grenzschärfe zur Kernschärfe

Wenn viele Menschen etwas sehen – nicht mit Kritik, die hat nach meiner Beobachtung nur eine verhärtende Wirkung auf einen selbst, sondern mit notleidendem Willen die Frage ‚nach oben‘, ins Geistige hinein sendend –, dann löst sich oft die Problematik ‚von alleine‘ auf. Die Frage muss natürlich am richtigen Punkt ansetzen. Wenn ich mir Frieden wünsche, ist die Fragestellung nicht unbedingt: Warum lassen uns die anderen nicht in Ruhe, warum dehnen sie ihre Macht über die Grenzen aus und so weiter? Sondern ich sollte vor der Fragestellung einen Erkenntnisprozess vollziehen, der den Blick so weitet, dass ich nicht wie eine Fliege immer wieder an dasselbe Fensterglas donnere. Ich könnte erkennen, dass Krieg mit Grenzziehung zu tun hat. In all meinem Tun und Denken dann aufhören, mich um die Grenzschärfen, um die Abgrenzung zu kümmern, sondern mich um die Kernschärfe bemühen: Was will mein Wesen? Wer bin ich? Welche Impulse sind die meiner Wesensentfaltung? Und die Grenzen? Wodurch gestalten sich dann die Grenzen? Die sind doch wichtig? Ja, dann ist die Grenzziehung dort, wo ich etwas nicht mehr mit meinem Wesen, mit meinem Herzen durchdringen kann. Und so können wir alle frei miteinander wirken, denn die Welt ist so groß, wie die Anzahl der Wesen, die in ihr leben. Niemand kann dem anderen etwas wegnehmen, wenn jeder aus seinem Herzen heraus lebt. — Und die Verantwortung? Ich habe doch etwas zu verantworten, ich repräsentiere etwas, wofür ich stehe? Davon hängen viele Menschen vielleicht ab. Von einer Gruppensklaverei, die die Herzen unfrei macht? Für diese Umkehrung des Blickes von der Grenzziehung, von der Grenzschärfe hin zur Kernschärfe braucht es Mut, einen Sprung zu machen von allem sicheren Boden hin zu meinem eigenen Wesen.

Wenn ich mich also nicht von den Gruppengedanken leiten lasse, kann ich dem Menschen, der mir begegnet, als Individualität begegnen. Ich lebe ganz in dieser Ich-Begegnung mit dem anderen Menschen und begebe mich dadurch, dass ich in solcher Art wahrnehme, in die Sphäre des Wesens, das mit der Ich-Begabung zu tun hat. Dieses Wesen benenne ich in der deutschen Sprache mit dem Namen Christus. Ach so, da wäre dann noch die Frage, ob wir damit nicht dann Sklave des Christus seien? Wenn ich seine Sphäre wirklich erreiche, diejenige der Ich-Begabung, bin ich gleichzeitig in meinem eigenen Ich gestärkt.

Dieser ganze soeben beschriebene Vorgang ist ein sozialer Kultus, in dem wir tagtäglich drinnen stehen. Es gibt tatsächlich keine Sekunde, wo wir neutral sein können. Entweder wir werden benutzt von geistigen Wesen oder wir ergreifen unsere Ich-Tätigkeit, sind als Ich-Menschen wahrnehmend wach und stellen uns brüderlich in den Tempelraum des Christus.

Die soziale Frage bezüglich der Neuzugewanderten ist dann nicht, wie bekomme ich die Flüchtlinge zum Christentum, sondern wie kann ich das Wesen des anderen Menschen so in Ich-Begegnung wahrnehmen, dass in unserer Begegnung der Christus aufleuchtet unabhängig von unserer Religion?

 

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